Engel in weiß

Tag +3 nach Stammzelltransplantation, Station Löhr

Sie kommen!

Jede Nacht!

Schemenhaft glitt eine weiße Gestalt auf leisen Sohlen durch das Dunkel der Nacht. Sie warf einen kontrollierenden Blick auf die blau leuchtenden Maschinchen, die rund um die Uhr liefen. Dann wandte sie sich zu mir, beugte sich vor und sprach mich an. Sofort kam ich aus dem Halbschlaf zurück. Es war 3 Uhr nachts und mir wurde  Blut abgenommen. Auf den Stationen Holthusen und Löhr war dies übliche Routine. Morgens zur Arztvisite sollten ja die relevanten aktuellen Blutwerte vorhanden sein. Als Patient gewöhnte ich mich nie richtig an dieses nächtliche Ritual. Aber ich nahm es hin, hatte ja keine andere Wahl. Oft wachte ich auch gar nicht richtig auf und bemerkte lediglich eine weiße Gestalt im schummrigen Licht vom Gang. Meist musste ich mich nur kurz zur Seite drehen, damit vom ZVK am Hals die Blutabnahme möglich war. Manchmal, wenn ich nachts kurz wach wurde, konnte ich nicht genau sagen, ob ich gerade geträumt hatte, oder ob wirklich gerade so ein „Engel in Weiß“ im Zimmer gewesen war.

Das Wort Engel bedeutet Botschafter oder Abgesandter. Sie sind geisterhafte körperlose Erscheinungen. Interessanter Weise überbringen Engel in allen drei Religionen des Abendlandes, also Islam, Juden- und Christentum, Botschaften des Herrn, können aber auch bestimmte Orte oder Personen schützen (s. auch Schutzengel). Bei entsprechenden Recherchen konnte ich jedoch nichts zur Opferbereitschaft von Engeln finden, wie es „meine“ Engel in Weiß praktizierten. Angeblich verkünden sie, laut religiöser Texte, Heil oder Unheil, bleiben selber aber in der Rolle der Abgesandten und sind nie vom Geschehen selber betroffen.

©Pixabay

Die Engel in Weiß – so taufte ich innerlich die Pflege-, Physiotherapie-, Psychologie-, Lymphdrainagekräfte der Stationen Holthusen und Löhr. Sie waren, wie in fast jedem Krankenhaus, in weiß gekleidet und verkörperten sprichwörtlich meine Schutzengel. Nur, dass sie nicht verschont blieben vom Geschehen. Sie arbeiteten regelrecht am Limit und halfen einem trotzdem mit allen ihren vorhandenen Kräften durch diesen ganzen Wahnsinn hindurch. Das Puzzle an Einflussfaktoren auf den Körper der Pflegekräfte setzte sich langsam zusammen und machte mir klar, wie grenzwertig gewirtschaftet wurde und wird. Bei manchen dieser Engel bekam ich im Laufe der stationären Behandlung mit, dass es teilweise sehr große Auswirkungen des Berufs auf den Köper gab (Rücken-, Herz-Kreislauf- und diverse andere schwerwiegende Probleme). Vorwiegend bei jenen, die sich schon mehrere Jahre für diesen Beruf aufopferten. Aufopfern ist in meinen Augen hier das passgenaue Wort. Schichtdienst, Personalmangel, das psychisch belastende Umfeld (nicht alle Krebspatienten überleben die Therapie), etc. Sowas fordert Opfer – und wenn diese sich „nur“ in körperlichen Gebrechen widerspiegeln, es bleiben Opfer. 

Häufig gab es Tage, da wartete ich nach dem Drücken des Rufknopfes gerne mal 20 bis 30 Minuten, bis jemand vom Pflegepersonal kommen konnte, um nachzusehen, warum der Ruf ausgelöst wurde. Dann hieß es fast immer, jemand sei ausgefallen oder es gab einen Notfall. Ein Notfall kann auf einer Station mit Chemotherapiebehandlung durchaus öfter vorkommen und eigentlich schien für den Normalfall genügend Personal da zu sein. Es kam auch öfter vor, dass ungünstige Bedingungen kumulierten. Das beste Beispiel liefert ein Tag während meiner zweiten Chemotherapie auf Station Holthusen. Der Personalmangel hatte sich morgens schon dadurch angekündigt, dass die frühe Visite des Pflegepersonals sehr viel knapper als normal ablief und das normalerweise etwa um 8 Uhr geplante Frühstück erst kurz vor 9 Uhr kam. (Die Pflegekräfte waren zudem noch zuständig, das Essen auf der Station zu verteilen und danach das Geschirr wieder einzusammeln.) Ok, dachte ich, es fehlt heute wieder jemand. War mir dann auch egal, weil ich wahrscheinlich sowieso nichts wegen der Chemo-Übelkeit essen konnte. Und die geplanten Verabreichungen der Medikamente und Infusionen wurden bisher trotzdem immer pünktlich an meinen ZVK angehängt. Also alles im grünen Bereich – dachte ich.

Die Übelkeit war zuerst etwas besser. Jedoch kam sie später lautlos und schnell wie ein Boomerang zurück. Viel zu schnell für eine Turbo-schnell-wirkende-Anti-Übelkeits-Tablette (z.B. Zofran – wer es kennt). Es ging sogar so schnell, dass ich nicht einmal Zeit hatte, nach der für Notfälle immer bereitliegenden Spucktüte zu greifen. Da schoss es schon durch die Speiseröhre aus meinem Mund auf die Bettdecke. Lecker! Sofort drückte ich besagten Rufknopf. Bestimmt würde mich gleich ein Engel in Weiß aus diesem Dilemma befreien. Nach dem Erbrechen war ich jedes Mal wie ausgesaugt. Durchgeschwitzt, zitternd, müde, keine Kraft zum Aufstehen, geschweige denn um selber mal kurz das Erbrochene zu beseitigen. Nein, ich konnte nur daliegen und warten. Der unangenehme Geruch meiner Decke ließ mich nur halb wegdämmern und nicht richtig einschlafen. Er verstärkte nach einer Zeit wieder die Übelkeit. Die zweite Ladung konnte ich zum Glück in der Spucktüte platzieren. Der Blick danach auf die Uhr verriet mir, dass mittlerweile eine halbe Stunde vergangen war und noch niemand vom Pflegepersonal nachgeschaut hatte. Zur Sicherheit schaute ich nach dem Kontrolllicht, dessen Leuchten den ausgelösten Ruf bestätigte. Erschlagen hielt ich den halb gefüllten Beutel in der Hand und wartete. Nach insgesamt einer dreiviertel Stunde kam endlich jemand und beseitigte das Unglück. Es gab wohl krankheitsbedingte Ausfälle kombiniert mit Notfällen. Mir wurde in dem Moment erschreckend klar, dass auf einen weiteren Notfall hier nicht hätte reagiert werden können. Später fragte ich mich, was hätte passieren können, wenn ich dieser weitere Notfall gewesen wäre? Innerlich entstand ein gewisser Groll gegen das bestehende System und den Zwang, dass Krankenhäuser und andere ähnliche Einrichtungen privatisiert wurden und/oder wirtschaftlich maximiert arbeiten müssen. Hier steht Geld gegen Leben. Und die Engel in Weiß werden zwischen den Fronten aufgerieben. Trotzdem lassen sie niemals nach und unternehmen alles in ihren Kräften mögliche, um uns Patienten zu helfen. Es gibt einfach zu wenige von ihnen*.

Ich für meinen Teil empfand eine große Dankbarkeit für die Engel in Weiß, und ich hatte plötzlich ganz großen Respekt vor meinen anderen unsichtbaren Schutzengeln da oben. Vielleicht waren sie es ja, die meiner alten Leukämie und den neuen Stammzellen gesagt haben, dass sie mir keine schweren Komplikationen bereiten sollen. Und vielleicht hielten sie auch Gevatter TOD auf Distanz. Sodass ich meinen Kampf zurück ins Leben kämpfen konnte, der noch lange nicht beendet war…

*Persönlich denke ich, dass die Gegebenheiten in der Uniklinik noch die besseren sind, wenn direkte Vergleiche zu Pflegeheimen gezogen werden. Trotzdem ist eine chronische Unterbesetzung fast jeden Tag spürbar. Der Beruf fordert viel von den Pflegekräften und wenn nur eine Person ausfällt, müssen dies die verbliebenen mit tragen. Diese werden dann zusätzlich belastet, die Wahrscheinlichkeit von Ausfällen steigt logischer Weise. Ein Teufelskreis, über den gerne hinweg gesehen wird. In meiner Realität, den 5 Monaten auf Station, gab es viel mehr dieser Notbesetzungstage als normale.

Die Politiker der erneuten GroKo haben im Januar angekündigt, 8.000 Pfleger  einzustellen. Jedoch gibt es in Deutschland rund 13.000 Pflegeeinrichtungen (s. Beitrag von tagesschau.de). Das macht nach Adam Riese 0,615 neue Stellen für jede Einrichtung. Vorsicht Sarkasmus: Das ist ein gaaanz großer Wurf und löst natürlich alle Probleme. Ich verstehe nicht, wie weltfremd unsere Politiker sein können. In der Realität funktioniert das doch schon rein logisch nicht. Woher sollen denn sofort 8.000 Pflegekräfte herkommen? Die müssen doch erst mal ausgebildet werden. Andererseits wird es, meiner laienhaften Einschätzung nach,  Finanzhaushaltstechnisch nicht funktionieren, so eine riesige Summen adhoc aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren. Warum plant man nicht in Stufen? Nur als grobe Idee: Zuerst eine Bedarfsermittlung – Wieviele werden heute gebraucht und wieviele in den nächsten 10-20 Jahren (wegen der Alterspyramide)? Pro Jahr soundsoviele neue Ausbildungsstellen. Damit ein jährlicher Zuwachs der Pflegekräfte und eine schrittweise Erhöhung der Budgets. So eine Vorgehensweise scheint mir zumindest logischer und wirtschaftlich erträglicher, als das, was uns von dort „Oben“ serviert wird.

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