Mein Hiroshima

Ziel der geplanten Stammzelltransplantation war, dass sich ein neues fremdes Immunsystem in meinem Knochenmark einnisten konnte. Dazu musste jedoch mein altes defektes Immunsystem ausradiert werden, wozu drastische Maßnahmen nötig waren.

Vor der Transplantation werden die Tage wie bei einem Countdown herunter gezählt. Bei mir begann es mit Tag -7 („minus sieben“). Der Startschuss für einen Massenmord in meiner Blutbahn. Immerhin musste das Blut bildende System, bestehend aus vielen hunderten Millionen Zellen, gezielt durch Bestrahlung und Chemotherapie abgetötet werden. Nun hing alles von dieser Millionenteuren Maschine ab.

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TAG -7, EINZUG INS NEUE ZIMMER

(Der Tag nach Ostermontag) Und wieder fahre ich ein, in den Schacht. Schacht sage ich, deshalb, weil es sich sehr isoliert und weit weg von allem anfühlt. Auch wenn die Station übertage im zweiten Stock liegt. Zumindest die Aussicht aus meinem neuen Schacht auf Station Löhr ist wesentlich schöner als die von Zimmer 8 auf Holthusen. Die Isolationsbedingungen sind hier schärfer als auf Holthusen. Während der Vorbereitungen auf die Stammzelltransplantation und einige Zeit danach haben die Patienten Einzelzimmer, aus Gründen des Infektionsschutzes. Besucher müssen über ihre Kleidung spezielle Einmalkittel und Masken über Mund und Nase ziehen, was für Brillenträger einen besonderen Nachteil hat. Die stickigen Masken lassen beim Ausatmen an der oberen Seite öfter Luft durch. Mit dem Resultat, dass Brillengläser beschlagen. Darüber hatte sich meine Frau häufig beschwert. Man müsse nicht nur unter den Plastikkitteln schwitzen wie verrückt, sondern es wäre die ganze Zeit alles vernebelt. Den Effekt kann ich bestätigen, wenn ich für meinen Teil außerhalb des Zimmers auch eine Maske tragen musste. Sehr nervig.

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In meinem Zimmer für die nächste Zeit, Zimmer 4, stand bereits ein Fahrradtrainer. Sehr gut, dachte ich, dann muss ja nichts mehr umgestellt oder organisiert werden. Alles war bereit für die guten Vorsätze (aus 90-60-90). Dann richtete ich mich soweit möglich ein.

Zufälliger Weise spielte in diesem Zimmer auch ein Teil des in die Jahre gekommenen Aufklärungsfilms über die Stammzelltransplantation von der Uniklinik Freiburg. Vom Informationsinhalt ist der Film ganz gut, nur die dargestellten Situationen…. naja, da kann sich jeder selber ein eigenes Bild von machen, wer will (hier). Jedoch wird gegen Ende gezeigt, wie eine Patientin mehr oder weniger vergnügt auf ihrer Gitarre spielt (Minute 22:40), während sie auf dem Zimmer nach der Transplantation darauf wartet, dass das neue Immunsystem die Arbeit aufnimmt. Auch wenn ich damit vorgreife. Es ging mir alles andere als gut und mir war zu vielem zumute, nur nicht zu irgendeiner kreativen Tat. Deshalb erzähle ich LeukoFIGHT auch einige Monate zeitversetzt, weil bei mir die Nebenwirkungen lange Zeit anhielten. Warum wurde im Film nicht etwas realtiätsnäheres gezeigt, dass die Uniklinik topmodern überall WLAN hat und die Patienten quasi eine Internet-Faltrate mit „gebucht“ hatten? Damit ließe sich auch die Zeit vertreiben. Mit Mediatheken, Kontakt per Email, Skype, Whatsapp oder social media zur Außenwelt halten…. 

Genug davon. Zurück zum Thema: Für den nächsten Tag war die Bestrahlung geplant.

TAG -6 BIS -4, DIE STRAHLENTHERAPIE

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Kein heller Blitz, kein Atompilz und doch das Wissen, jetzt werde ich „verstrahlt“. Endet mein Leichnam irgendwann nach meinem Tod in einem Bleisarg, wegen der Strahlung? Oder werde ich als Sondermüll entsorgt, weil sich so viele Chemotherapie-Gifte in meinem Körper angesammelt haben? Solche Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich an dem sonnigen Tag zu meiner ersten von sechs Strahlentherapien durch den Uniklinikpark lief. Wie ein Schaf zur Schlachtbank. Mir kamen immer wieder Bilder von Tschernobyl, Fukushima und dem Film „The Day After“ in den Kopf. Dann versuchte mein Verstand wieder Herr über die Gefühle zu werden. So eine Therapie wurde schon tausendfach erfolgreich angewendet. Die Gedanken spielten Ping-Pong. Was ist, wenn was schief geht? Was, wenn mein Körper auf die Strahlentherapie nicht reagiert, wie erwartet? Eine Wahl hatte ich nicht. Die Alternative wäre Tod durch Leukämie. Also Augen zu und durch! Nun hoffte ich auf das Wissen und die Erfahrung der Mediziner. Und darauf, dass mein Körper die Strahlen gut wegstecken würde. Die Ärzte meinten, dass das Thema Krebs nach so einer Therapie in 10-15 Jahren in anderer Form wieder auf mich zu kommen könnte. Das ist der Deal. Tor Nr. 1: Jetzt sofort abtreten. Oder Tor Nr. 2: Überleben und Lebenszeit erkaufen. Ich entschied mich für Tor 2 – für was sonst? 

Einer der Ärzte erklärte mir sehr anschaulich, warum eine Bestrahlung in meinem Fall Teil der Therapie ist und benutzte dafür den Atombombenabwurf in Hiroshima als Beispiel: Nachdem die Bombe in Japan gefallen war, erkannten Wissenschaftler, dass in verschiedenen Entfernungen zur Einschlagstelle (Ground Zero) unterschiedliche Dinge im menschlichen Körper passierten. Es gab beispielsweise einen Radius, in dem die Menschen zu wenig Strahlung abbekamen, um direkt an der Strahlenkrankheit zu sterben. Jedoch starben sie trotzdem nach einigen Tagen oder Wochen. Es wurde entdeckt, dass das Blut bildende System bei diesen Menschen zerstört war. Es gab nichts mehr für Sauerstofftransport oder Abwehrkräfte, und sie starben deshalb. Genau dieser Effekt wurde während der Therapie zur Zerstörung meines alten Immunsystems genutzt. Denn bevor ich ein neues Immunsystem bekommen konnte, musste das alte restlos zerstört werden. Blut-, Stammzellen und Knochenmark reagieren sehr empfindlich auf Strahlung. So ist eine Strahlentherapie ein häufig genutzter Weg, um dieses Ziel zu erreichen.

Hinter dicken Betonwänden, einige Meter unter der Erde stand das strahlende High-Tech-Monster. Es gab keine Fenster. Glas hätte die Strahlung nicht genügend abgehalten. Man durchlief auf dem Weg dorthin ein kleines Labyrinth aus Betonwänden. Die Ärzte saßen einige Festmeter Beton weiter in einer Art Kontrollzentrum. Überwacht wurde der Vorgang per Kamera.

Alle Fotos: ©Leukofight

Mein Körper wurde von oben nach unten in vier Segmente unterteilt. Jedes Segment (Vorder- und Rückseite) wurde 2 Minuten lang mit 2 Gray  bestrahlt. Zum Schutz der Lunge wurden vorher kleine maßgefertigte Bleiplatten auf meinem Brustkorb ausgerichtet. Damit sie jedes Mal die selbe Position einnehmen, wurden vorne und auf dem Rücken drei sehr kleine Punkte als Positionsmarken tätowiert. Sie fallen nicht auf, sehen eher aus wie sehr, sehr kleine Leberflecken.

Die gesamte Prozedur wurde zweimal täglich an drei aufeinander folgenden Tagen durchgeführt. Dabei stellte ich einen seltsamen Effekt fest. Immer wenn das obere Segment, in dem mein Kopf war, bestrahlt wurde, sah ich bei geschlossenen Augen einen surrealen ganz leichten blauen Lichtschimmer. Auch wenn ich auf dem Bauch lag, also die Strahlen von hinten in meinen Kopf eindrangen. Später erklärte mir einer der Mitarbeiter, dass dies manche Patienten wahrnehmen. Wow, ein eingebauter Geigerzähler, dachte ich. Den könnte die Evolution noch weiter verfeinern. Dieses „bisschen Blau“ könnte vielleicht als Zahlenwert erscheinen, wie hoch die Strahlendosis gerade ist. Und am Besten mit der Angabe, um welche Art Strahlung es sich handelt. Mein innerer Technik-Nerd sprudelte vor lauter Ideen. Der Rest von mir war von der Bestrahlung überhaupt nicht begeistert. Sie war ein notwendiges Tauschgeschäft für mein jetziges Überleben.

Jedoch war die Therapie noch nicht vorbei, der Berg noch nicht ganz genommen. Es würde bald die Zeit für die letzte, die alles entscheidende Komponente kommen. Nach der Hochdosis-Chemotherapie an Tag -3 war für Tag 0 die Verabreichung meines Stammzell-Zaubertranks geplant. Würde ich danach wie Asterix und Obelix Wildschweine mit bloßen Händen jagen, oder tonnenschwere Hinkelsteine schleppen können? Oder scharenweise Römer verkloppen?

Fortsetzung folgt.

Weiter lesen im nächsten Kapitel.