90-60-90

©Pixabay

Die Zahlen 90-60-90 stehen sinnbildlich für eine ausgezeichnete Bikinifigur oder besser für ein Schönheitsideal bei einem weiblichen Körper. Sie stehen für den Umfang in cm von Brust, Taille und Hüfte. Mit meiner persönlichen Bikini-Figur war es zum Zeitpunkt der Pause zwischen den Chemotherapien nicht weit her. Leider habe ich zu dem Zeitpunkt keine Messung vorgenommen und kann daher keine Zahlen liefern. Rein optisch hätte die Sache einen merkwürdigen Beigeschmack. Wie würde ein stark abgemagerter Mann mit 1,85 m Größe in einem Bikini aussehen? Bestimmt sehr lächerlich. Aber genug von fragwürdigen Schönheitsidealen. Zurück zu den drei Zahlen:

In dieser Gesichte steht 90-60-90 für ganz andere Dinge, vorrangig für mein gefühltes schwankendes Alter während und nach den Therapien. Während einer Chemo glichen sich mein Körpergefühl und die möglichen Aktivitäten rasant einem 90 Jährigen an. In den Pausen sank mein gefühltes Alter langsam wieder ab, Kräfte kamen häppchenweise zurück, dadurch kam auch mehr Aktivität, bis dann die nächste Chemo einsetzte. Ein interessanter Jo-Jo-Effekt, der mich auch jetzt noch in anderer Form begleitet und den ich NIEMANDEM wünsche.

So ging ich Anfang April 2017 stark geschwächt in eine etwa zweiwöchige Pause, quasi auf Heimaturlaub. Damals tatsächlich mit dem Gehtempo und der Kraft eines 90 jährigen. Nach diesen zwei Wochen war eine Stammzelltransplantation geplant. Und kurz davor sollte eine Hochdosis-Chemo kombiniert mit einer Strahlentherapie mein bisheriges Immunsystem ausradieren. Die Mediziner rieten mir, während dem Aufenthalt zu Hause, so viel zu Essen wie möglich. Je mehr Gewicht mein Körper wieder erreichen würde, desto besser verkraftet er die bevorstehende Chemotherapie. Diese Info aber bitte nicht pauschal sehen – „zuviel“ gibt es auch hier. Nur bei Antritt des „Urlaubs“ hatte ich lediglich noch 67 kg auf meinen damals sehr deutlich sichtbaren Rippen. Das waren 18 kg unter dem allgemeinen Normalgewicht bei der Körpergröße (und 9 kg unter meinem eigenen Normalgewicht).

Zu Hause angekommen freute ich mich auf MEIN Bett, MEIN zu Hause und die Ruhe. Aber vor mir lag ein Mount Everest: Diese Treppe.

©Leukofight

Monatelang bin ich keine einzige Stufe hochgestiegen. Auch bei meinen kurzen Ausflügen wie in „Parallelwelten“ lagen Treppenstufen definitiv nicht in meinem Fokus. Meine Beine drohten schon an der erste Stufe zu scheitern. Voll auf die „90“ – Bingo! Die schöne Barrierefreiheit des Krankenhauses gab es hier nicht. Kein Aufzug, kein Treppenlift oder ähnliches. Mir helfen lassen wollte ich auch nicht. Da stand mein Ego plötzlich im Weg. Mit vereinten Kräften von Armen und Beinen zog ich mich schließlich am Treppengeländer Stufe für Stufe hoch. Zum Glück befand sich unsere Altbau-Mietwohnung im ersten Stockwerk und nicht noch weiter oben. Während meine Arm-Bein-Stufen-Erklimm-Technik funktionierte, merkte ich, wie meine Kräfte nachließen. Außer Atem dachte ich, Altbau-Stockwerke können verdammt hoch sein.

Dies war ein Schlüsselmoment. Niemals wieder wollte ich so schwach sein – zumindest nicht aus eigenem Verschulden. Während den Chemopausen hätte ich bei meinen Ausflügen öfter Treppen statt Aufzüge nehmen sollen. Und allgemein viel öfter mal aus dem Bett raus und über den Gang gehen – auch wenn es Zeiten gab, in denen es einem richtig beschissen ging. Hätte, könnte, sollte. Ab jetzt kein Konjunktiv mehr, schwor ich mir. Während der nächsten und hoffentlich letzten Runde in der Uniklinik wollte ich jeden Tag irgendeine Art körperliche Betätigung leisten. Bei einer kurzen Vorbesichtigung der „Stammzelltransplantations“-Station Löhr hatte ich schon ein paar Informationen sammeln können. So konnte man sich z.B. ein Sportgerät (Fahrradtrainer oder Stepper) für sein Einzelzimmer aussuchen. In diesem Moment im Treppenhaus entschied ich mich aus dem Bauch heraus für das Fahrrad. Vielleicht war ein ausschlaggebender Punkt, dass das Fahrrad auch bei schlechterer körperlicher Verfassung nutzbar wäre, als ein Stepper. Sitzen ging ja fast immer. Und dabei sollten dann „nur“ noch die Beine bewegt werden. Ja, dachte ich, definitiv das Fahrrad. Mittlerweile hatte ich die letzte Stufe zum Treppenabsatz genommen und musste verschnaufen. Halbzeit auf gefühlten 5000 Höhenmetern. Beide Lungenflügel arbeiteten auf Hochtouren. Die Everest-Spitze war in Sicht. Bis dort oben habe ich es schließlich auch noch geschafft. An einem Tag, ohne Übernachtung im Zwischencamp. Und das ganze mitten in Freiburg.

In den zwei Wochen erholte ich mich recht gut – soweit dies möglich war. Denn ab und zu hing ich dann doch ausgiebig über oder auf der Schüssel. Nachwehen der Chemos. Das Gift bleibt noch lange im Körper, sodass Magen und Darm sich des öfteren sehr unangenehm und schnell entleeren. So verlaufen die Tage mit großen körperlichen Schwankungen. Mal geht es einem vergleichsweise „blendend“ und am nächsten Tag liegt man flach – ein weiterer Jo-Jo-Effekt der Chemos.

Konzentrieren wir uns lieber auf die lebenswerten Ereignisse. Glücklicher Weise gab es während meines Heimaturlaubes einige davon (in chronologischer Reihenfolge):

10. April: Mein Geburtstag.

16. April: Die Geburt meiner Nichte Lotta incl. Besuch auf der Entbindungsstation direkt an Ostern. 

15. April: Der Geburtstag (und Besuch) von Tom und seiner Familie.

Und zwischendurch immer wieder leckeres Essen.*

Alle Fotos: © Leukofight

So langsam ging ich wieder auf die „60“ zu. Die Dramaturgie des Lebens zeigte mir in diesen zwei Wochen geballt die bisher größten Kontraste in meinem Leben – hier der eine (90-60-90), immer wieder mit dem Abgrund konfrontiert, und rund um ihn herum die anderen, mitten im Leben, erklimmen gerade eigene Höhepunkte. Was war das nun? Ein dramatisches Ende á la – einer geht unter, aber das Leben geht weiter? Nein, es fühlte sich anders an. Eher als ob mir das Schicksal zeigen wollte, dass sich mein Kampf lohnen würde. Denn auf der To-Do-Liste meines Lebens stehen noch verdammt viele Punkte!

Also weiter kämpfen! My life must go on! 🙂

* Sorry, in der mobilen Version fürs Handy stimmt die Reihenfolge der Bilder nicht. Für dieses Layout ist der Internetseiten-Baukasten leider nicht flexibel genug…

Weiterlesen im nächsten Kapitel: