Schwarzes Loch

Schwarze Löcher existieren in den Weiten des Universums. Das Nächste ist tausende Lichtjahre von der Erde entfernt. Und sie existieren tief vergraben in jedem von uns. Sie suchen einen heim, am tiefsten Tiefpunkt.

Ein Schwarzes Loch ist für menschliche Maßstäbe kaum zu begreifen. Raum, Zeit, Gravitation und Wahrnehmung werden auf unvorstellbare Weise verbogen und verändert. Ein solches Loch hat einen sogenannten Ereignishorizont. Alles, was diesen überschreitet, wird eingesaugt – rücksichtslos in die Dunkelheit. Nichts kann aus einem Schwarzen Loch entkommen. Die Gravitation ist so stark, dass selbst Licht nicht entkommen kann. Obwohl, nicht ganz „Nichts“. Stephen Hawking, ein berühmter Astrophysiker, hat einen großen Teil seiner Forschung der Quantenphysik von Schwarzen Löchern gewidmet. Er gilt als heutiger Einstein und hat mathematisch bewiesen, dass es doch eine bestimmte Art Strahlung gibt, die aus einem Schwarzen Loch entkommen kann, die nach ihm benannte Hawking-Strahlung

Während der zweiten Chemotherapie erforschte ich gerade mein eigenes Schwarzes Loch. Es hieß Zimmer 8 auf Station Holthusen. Der Ereignishorizont war die Zimmertüre. In dieser Welt der Chemotherapien existieren ähnlich viele Paradoxa, wie in der Welt von Schwarzen Löchern. Es sind unvorstellbare Phasen, die Körper und Geist durchleben. Eingangs erzählte ich davon, dass ich wie ein Felsbrocken durchs Vakuum trudelte. Bevor ich später meinen neuen Orbit fand, fühlte ich mich, als ob ich an zwei Standorten zugleich gewesen wäre: Einmal als außen stehender Beobachter, gebannt von dem, was vor meinen Augen während so einer Behandlung passiert. Und dann mitten drin im Schwarzen Loch. Im Kern prasselt alles, was den Ereignishorizont überquert, schonungslos auf einen ein.

©Pixabay

Diesen Effekt, des „neben sich Stehens“, hat mir eine Psychoonkologin bestätigt. Es ist wohl ein nicht selten vorkommender Mechanismus des Bewusstseins, der zum Selbstschutz in traumatischen Situationen eingesetzt wird. Zu dem tragen auch die starken Medikamente einen großen Teil zu einer mentalen Veränderung bei, je nach Kombination.

Die Medikamente der Chemotherapie setzten meinem Körper schwer zu und erzeugten starke Nebenwirkungen mit unerträglich großen Schmerzen. Gegen die Schmerzen erhielt ich ein Morphinpräparat, das die Wahrnehmung verändert und abhängig machen kann. Wodurch es die Abhängigkeit erzeugt, weiß ich nicht, war mir in dem Moment auch egal. Jedoch war die Bewusstseinsveränderung selbst für mich deutlich wahrnehmbar und sehr unangenehm. Mein Körpergefühl, das Denken, visuelle Eindrücke – alles schien fast wie im Normalzustand, aber all dies fühlte sich zudem leicht verändert und irgendwie falsch an. Ich war nicht mehr ich selbst. Eine andere Person. Einmal Zuschauer und zugleich Gefangener und Opfer der Leukämie. 

Das Pflegepersonal meinte, dass ein unangenehmes Gefühl eher selten sei. Die meisten Patienten fänden den Zustand wohl relativ angenehm, würden ihn manchmal als „schwebend“ bezeichnen. Ich nicht! Bei mir war es eher so, als ob mich etwas nach oben zieht, aber zugleich die Decke in meinem Schädel von oben herunterdrückt. Ähnlich, wie in der Müllpresse des Todessterns, in der sich Prinzessin Leia, Luke Skywalker, Han Solo und Chewbacca befinden und die Wände von rechts und links auf sie zuwandern (wer den Film nicht kennt, hier klicken). Nur wandern die Wände in meinem Fall nicht seitlich auf mich zu, sondern kommen von oben und unten. Ich wollte so schnell wie möglich wieder weg von dem Medikament. Aber die Schmerzen waren in dem Moment noch zu groß für dieses Vorhaben.

©Leukofight

Wie Treibgut befand ich mich in einer Art Strudel. Getrieben durch die Gravitationskräfte der Medikamente einerseits und den Bemühungen der Mediziner andererseits, mich lebendig aus diesem Loch heraus zu katapultieren. Man fühlt sich in diesem Zustand ausgeliefert, hilflos, weil man selber nichts mehr beeinflussen kann.*

Ich war weit entfernt vom Normalbereich. Es wurde auf mich eingeprügelt. Physisch – durch die heimtückische Leukämie und die brutalen Medikamente. Mental – Schmerzmittel mit der Nebenwirkung der Wahrnehmungsveränderung, keine Ruhe im Zimmer, andauernde Störungen, keinerlei Rückzugsmöglichkeit. Und dann war da noch Günther. Mit ihm teilte ich mir die ersten Wochen das Zimmer. Seine Entwicklung nach dem Rückfall entmutigte mich täglich.

Und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, wollte ich nicht aufgeben. Geist und Körper können sich wehren, trotz der wirklich erbarmungslosen Situation. Also, wie komme ich da raus? Gerade stehen, Kopf hoch, Brust raus und wie Hawking das Unmögliche versuchen: Strahlend aus dem Schwarzen Loch hervortreten!

* In einer solch harten Phase ist es sehr schwierig, aus eigener Kraft im Geiste aufrecht zu bleiben. An dieser Stelle vielen Dank an all die Unterstützer aus meinem Umfeld, ganz besonderen Dank an Ane, Gisela und Barbara. Sie haben mir Kraft gegeben und dabei geholfen, selber Kraft zu finden.

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