Gevatter TOD

©Leukofight

TAG +1 NACH STAMMZELLTRANSPLANTATION

„Wir werden alle sterben“ heisst ein Sprichwort. Faktisch stimmt es auch, die Frage ist nur: Wann genau? Zumindest nicht jetzt, dachte ich mir. Momentan ging es den Umständen entsprechend einigermaßen ok. Kaum Schmerzen, wenig Übelkeit, etc., etc. Auch wenn ich es damals nicht realisierte, begann eine der kritischsten Phasen meiner Therapie. Die Zeit des Wartens auf das neue Immunsystem ohne jegliche Abwehrkräfte. Zwar kündigten sich diverse Nebenwirkungen der Chemo bereits an, aber sie beeinträchtigten mich noch nicht so sehr, dass ich zumindest mal wieder ein paar Seiten in einem Buch lesen konnte. Normalerweise war nach den Chemotherapien höchstens eine Berieselung durch Filme, Serien, Podcasts oder Hörbücher möglich.

Eine meiner „literarischen“ Lieblingsfiguren ist (passend zum Thema) Gevatter TOD aus den Scheibenweltromanen von Terry Pratchett. TOD erscheint im klassischen Stil als Skelett mit dunklem Kapuzenumhang und Sense. Er hat in den Geschichten die Angewohnheit immer in GROSSBUCHSTABEN zu sprechen, deshalb schreibt er sich auch TOD und nicht Tod. Von seinem Job ist er eher genervt, führt ihn jedoch trotzdem akribisch genau durch. Vor jeder Seelenüberführung hält er in seiner knochigen Hand das Stundenglas der Lebenszeit der bald dahin scheidenden Person. Er zeigt großes Interesse für Angewohnheiten und Umgangsformen der Menschen, versteht sie aber überhaupt nicht und offenbart häufig Symptome eines Burnout. Kein Wunder. Er macht seine Arbeit sprichwörtlich seit Anbeginn der Zeit. Vielleicht ist das nicht jedermanns Humor – ich fand das Buch und den spielerischen Umgang mit dem Thema sehr amüsant. Etwas düsterer Humor, schön seicht verpackt, genau das Richtige jetzt, dachte ich.

Vor der Leukämie hatte ich mir nur selten Gedanken über meinen eigenen, realen Tod gemacht. Eine dieser wenigen „Konfrontationen“ war 2011, als ich knapp 3 Monate lang für eine Tierdokumentation der ARD in Namibia arbeitete. Nach dem Feierabend hatte ich einen gefährlichen Heimweg von ein paar hundert Metern quer durch den stockfinsteren afrikanischen Busch* vor mir. Blöderweise haben wir in diesem Gebiet tagsüber schon allerlei Giftschlangen gesehen: Schwarze Mamba, mehrere Kobra-Arten, Puffottern, etc. In der Regel gehen Giftschlangen einem Menschen aus dem Weg, wenn er nur laut genug herumtrampelt. Jedoch, keine Regel ohne Ausnahmen** – von denen jede hätte tödlich sein können. In so einer Gegend hatte man bestimmt Gegenmittel in Reichweite. Ja klar, hieß es. Nur unter Namibiern ist „in Reichweite“ ein sehr dehnbarer Begriff. Die nächste Station, in der Gegengifte lagerten war Windhuk, im Idealfall ca. 4 Std. Autofahrt entfernt. Viele der genannten Schlangengifte wirken jedoch schon innerhalb von Minuten. Ich entwickelte eine Art Fatalismus: Falls ich von einer Schlange gebissen werden sollte, machte ich mir klar, wäre es vorbei. Punkt. Bis dahin musste ich diesen Gedanken akzeptieren und zur Seite legen. Sonst hätte ich nicht weiter arbeiten können und mich in meinem Zimmer bis zum Rückflug verschanzt. Damals wurde mir klar, dass das Lebensende nicht planbar war oder man sich den Zeitpunkt aussuchen könnte. Wir alle hoffen auf einen ruhigen, friedvollen Übergang ins Jenseits. Diese Illusion war wie weggeblasen. Das Ende kommt, wenn es kommt. Vielleicht in 5 Minuten, vielleicht in einem Jahr oder erst in 50…?

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Ein paar Jahre später beim Wechsel von 2016 nach 2017 dachte ich mit Erhalt der Diagnose Leukämie, jetzt sei es soweit. Das Absurde in dieser Situation war, dass eine bestimmte Art des Todes versagt hatte (zusammen mit ein paar weiteren genetischen Veränderungen) und mir dadurch die Leukämie beschert hatte. Der sogenannte programmierte Zelltod ist im Normalfall dafür zuständig, dass unnötige, hinderliche oder entartete Zellen sich selbst zerstören, bevor der gesamte Organismus in Gefahr gerät. Dieser Mechanismus hatte bei meinen Blut bildenden Stammzellen versagt. Gevatter TOD war recht nahe. Seinen Atem spürte ich förmlich im Nacken. Vielleicht hatte er sich nur auf der Sanduhr mit meiner Lebenszeit verguckt und sich dann wieder zurückgezogen. Und heute, Anfang 2018, bin ich immer noch da, kann von dem Unbegreiflichen berichten.

Aber wie wollte ich dem Tod begegnen, wenn er (in einer hoffentlich weit entfernten Zukunft) kommen sollte? Gerade hatte er ja schon an meiner Türe angeklopft und ich war alles andere als darauf gefasst gewesen. Meine Gedanken zogen immer weitere Kreise, beleuchteten das Thema aus unterschiedlichsten Perspektiven und kamen doch zu keinem finalen Ergebnis. Das Thema ist zu weit, komplex, spirituell, wissenschaftlich, emotional und vieles mehr. Eines wurde mir schnell klar. Ich weiß zwar nicht, wie man so etwas anstellt, aber dem Tod wollte ich, so oft es geht, entkommen und ihn so lange wie möglich auf respektvollem Abstand halten. Erstaunlicherweise verschwand mein Groll und Zorn gegen ihn – jedoch nicht gegen die Leukämie. Der Tod gehört zum Spiel des Lebens – ein unumstößliches Gesetz. Nur einen Krebs mit 40 als Ursache für meinen Tod wollte ich nicht akzeptieren! Schlechte Nachrichten durfte ich in meinem Kampf nicht an mich ran lassen. Etwa von anderen Mitstreitern, die ihren Kampf leidvoll verloren hatten. Endgültig. Bei einer gefährlichen Gratwanderung wie meiner konnte viel schief gehen.

Um diesen Gedanken zur Seite zu wischen, las ich weiter. In den Geschichten ließ TOD sich trotz Burnout niemals austricksen. Jedes Mal wartete er bis das letzte Sandkorn hindurchgefallen war und hieß die häufig verwirrten Seelen mit einer tiefen, Mark erschütternden Stimme WILLKOMMEN! BITTE FOLGE MIR ZUR ANDEREN SEITE. Unvermittelt blickte ich vom Buch auf und schaute mich im Zimmer um. Es war still. War er gerade hier? Hatte ich ihn nur nicht bemerkt? Niemand da. Kein Sensenmann in Sicht. Zum Glück blieb er gerade auf Abstand. Trotzdem hätte mich brennend interessiert, wieviel Lebenszeit-Sand in meiner Sanduhr noch vorhanden war.

* Da Namibia sehr nah am Äquator liegt, sind Tage und Nächte relativ gleich lang. Sonnenauf- und -untergang etwa um 6 bzw. 18 Uhr. Die Dämmerungen sehr kurz. Fast so, als ob man einen Schalter umlegt. Licht an, Licht aus.

** Dort lernte ich drei Ausnahmen kennen. 1. Die Schwarze Mamba hat als einzige Schlange territoriales Verhalten. Da kann man viel falsch machen, wenn man nicht weiß, was sie als „ihr“ Territorium sieht. Weglaufen bringt nichts, auch nicht, wenn man gedopter Profisprinter wäre. 2. Es wurde vermutet, dass es ein Kobranest in der Nähe gab, da einige junge Kobras gefunden wurden. Das Problem bei den jungen Kobras ist, dass sie noch keinen Respekt vor großen Tieren (also auch Menschen) haben. Sie halten auf alles zu, was sich bewegt. Ihre Giftdrüsen sind blöderweise schon voll funktionsfähig. 3. Puffottern hören sich niedlich an, sind aber alles andere. Ihre Abwehrstrategie ist, sich nicht zu bewegen. Man kann nur wenige Zentimeter an einer dieser Ottern vorbei gehen und es passiert nichts. Tritt man jedoch auf eine oder berührt sie, beißt sie zu.

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