Parallelwelten

Die Themen Gefangenschaft, Selbstbestimmung und Gefahrenvermeidung haben mich während der stationären Behandlung sehr beschäftigt. Nur wenige Aspekte können in einer Geschichte wie Deniz und die Insel erzählt werden. Hier nun ein weiterer und anderer Blick auf Begebenheiten und Hürden des Therapiealltags einer Isolierstation.

Die Evolution hat uns Menschen für den Lebensraum Erde nur die nötigsten Werkzeuge und Sensoren gegeben. Augen, Ohren, Nase, Füße, Hände reagieren auf Schall, Licht, Wärme, Kälte, Schmerz, Gerüche, etc. Krankheiten und vor allem deren Erreger blieben in der Parallelwelt des Mikrokosmos für Menschen Jahrtausende verborgen. Diese entwickelten zuerst Theorien von verstimmten Naturgeistern und Gottheiten oder von Ungleichgewichten der Körpersäfte. Erst mit der Zeit fanden sie Heilkräuter, Elixiere und andere Heilmethoden. Von dem Mikrokosmos, wie wir ihn heute mit Mikroskopen sichtbar machen können, hatten sie noch keine Ahnung.

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Zum Schutz vor Bedrohungen aus dem Mikrokosmos werden Leukämiepatienten in die sogenannte Umkehrisolation geschickt. Die Regeln sind hier sehr strickt. Hinter jeder automatisierten Handlung kann eine Gefahr lauern: Händeschütteln – verboten! Beim Anfassen können Erreger übersiedeln. Wer weiß, wen oder was mein Gegenüber vorher alles berührt hat? Ich musste lernen, jede Handbewegung, auch wenn sie noch so unbewusst war, zu überdenken. Etwa bevor ich mir die Augen rieb oder geistesabwesend an den Fingernägeln knabbern oder verbotener Weise in der Nase bohren wollte: Was hatte ich vorher berührt? Könnten sich dort Keime befunden haben? Oder auch anders herum gedacht: Was hatte ich schon alles seit der letzten Handdesinfektion angefasst? Türklinken? Bücher? Den neben dem Bett stehenden Rollwagen?…. Szenario um Szenario lernte ich in meinem Kopf abzuspulen. Sehr anstrengend und mühsam. Im Zweifel die Hände desinfizieren. Ist nicht gut für die Haut, der Geruch ist penetrant, hilft aber gegen mögliche Keiminvasionen.

Außer dem Mikrokosmos gab noch eine weitere Parallelwelt: Draußen. Während der stationären Therapie fühlte ich mich abgeschnitten von der Außenwelt. Die Welt hier drinnen hatte ihre ganz eigene Eigendynamik. Der Tagesablauf war strikt vorgegeben mit Blutabnahme in der Nacht, Visite des Pflegepersonals, Frühstück, danach Arztvisite, Anwendungen oder Mobilisierung (die Bezeichnung „Sport“ wäre irreführend), Mittagessen, etc. Ruhe oder ein Rückzug in irgendeiner Art ist nicht vorgesehen.  An die andauernden „Störungen“ gewöhnte ich mich nie, aber hingegen mit der Zeit an die sehr umfangreichen Regeln der Umkehrisolation. 

Trotzdem blieb das Gefühl der Gefangenschaft. Die lieblose Innengestaltung in den Räumen der alten Bauten trug ihren Teil dazu bei. Anhand der Einrichtung tippe ich etwa auf eine Komplettsanierung in den 70er/80er Jahren (ohne es tatsächlich zu wissen), mit späteren Nachbesserungen am Innenausbau, um auf dem Stand der Technik zu bleiben, etwa bei der Filterung der Luftzufuhr, Elektrik, WLAN-Router, etc. Lieblos, kalt, funktional, eng. Es war ein geringer Trost, dass nebenan ein top moderner Neubau entstand, in den die Isolierstationen demnächst übersiedeln sollten. Meine Therapie war nun mal jetzt! Pech gehabt. Station Holthusen, Loch 8. 

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Ich wollte raus! Raus, an die frische lebendige ungefilterte Luft, weg vom eigenen Leid und den Schmerzen, hinein in die normale Welt – so oft es ging. Im Normalfall durfte ich mich nur auf der Station bewegen und außerhalb des Zimmers auch nur mit Gesichtsmaske, welche die Keime abwehrt. Die Maske war deshalb so unbeliebt, weil sie regelrecht gestunken hat. Ähnlich wie zu warmes Plastik. Für den Stationsalltag sollte jeden Tag eine neue Maske benutzt werden. Damit der Gestank nicht so schlimm war, hing ich die Maske für den nächsten Tag schon abends zum Lüften auf. Die Freude war groß, wenn meine Beschützer mir meine Kerkertüre gelegentlich entriegelten und ich dann außerhalb der Station ohne Maske unterwegs sein konnte.

Meine Beschützer sind in diesem Fall die Leukozyten. Sie bilden nach der Chemotherapie für kurze Zeit wieder eine Art Grundabwehr. Gerade genug, um das Verlassen der Isolierstation ohne Maske nicht zu einem Himmelfahrtskommando zu machen. Das war mein Schlüssel zum Hofgang, zu meiner kleinen kurzen Freiheit. Immer dann, wenn sich mein Immunsystem ein wenig erholt hatte und eine Anzahl von Leukozyten über 1000-1500/𝛍l* nachweisbar waren. (Die Werte hier sind nur ganz grob, denn die Mediziner entscheiden individuell je nach Patient, Erkrankung und anhand weiterer Werte.) Zudem sollten die neutrophilen Leukozyten über 500-700/𝛍l liegen. Diese Unterart der Leukozyten leistet die größte Abwehrarbeit. Nur wenn diese in ausreichender Zahl vorhanden waren, hatte der Körper zumindest einen Basisschutz und die Mediziner erlaubten auch ohne Maske einen Aufenthalt im Freien.

Ein paar Schnappschüsse von meinen Freigängen rund um die Klinik…

Mit Maske und Zimmernachbarn einen Kaffee ToGo holen.

Ohne Maske mit aufgequollenem Kortison-Gesicht im „Park“.

…und kleine Freuden am Wegesrand.

Frühling – Eine Blüte auf dem Klinik-Gelände.

Frühsommer – Entenmutter mit ihren Küken am Klinikteich.

Fotos: ©Leukofight

Einmal waren meine Werte so gut, dass mir ein auswärtiges Essen (unter vielen Auflagen und mit viel Papierkram) genehmigt wurde. Trotz meiner schmerzenden Hobbitfüße bin ich zu einem nahegelegenen Asiaten gegangen. Es kam mir vor wie eine halbe Weltreise und ich konnte nur SEHR langsam gehen, da auch mein Hämoglobinwert (rote Blutkörperchen) sehr niedrig und ich deshalb ständig außer Atem war. Wahrscheinlich hätte mich ein 80 jähriger mit Rollator überholen können. Zum Glück kam keiner, also blieb mir diese Schmach erspart.

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Ente süß sauer. Die Strapazen haben sich für die Abwechslung gelohnt!

Kraft und Ausdauer reichten nur für kurze Freigänge. Trotzdem hat mir der Kontakt mit der parallelen Außenwelt viel gegeben. Es gab sie noch. Es lohnte sich für eine dauerhafte Rückkehr zu ihr zu kämpfen.

* Bei einem Menschen mit funktionstüchtigem Immunsystem liegt der Wert der Leukozyten üblicherweise zwischen 3500-10000/𝛍l