BINGE WATCHING (BINSCH WOTSCHING)
Während meines Aufenthalts in Uni- und Rehaklinik, hing ich täglich im Stream. Häufig nutzte ich Nachrichtenportale von ARD und ZDF oder die Mediatheken von arte, 3sat, Netflix oder Youtube. Ich holte mir die Welt auf mein Tablet, suchte Ablenkung, flüchtete mit meiner Aufmerksamkeit weg von der Krankheit, weg von den Phasen großer Schmerzen. (Neudeutsch heißt dies binge watching – übersetzt in etwa gleichwertig mit Komaglotzen.) Erschreckender weise sah ich wie aus einem anderen Kosmos zu, wie die Welt langsam aus den Fugen geriet: Trumps Wahl zum Präsidenten, Erdogans Jagd nach „Terroristen“, Putins Unterstützung für Assad, usw. Ich hatte keine Lust mehr auf den Weltschmerz oder auf die Schmerzen im eigenen Körper. Zur Ablenkung zog es mich oft hin zu schönen, seichten Themen, „Themen, die nicht weh tun“, hatte ich sie genannt. Und manchmal brachten sie kleine Perlen hervor.
Auf meinem Zimmer in der Rehaklinik in Triberg habe ich eine solche kleine, persönliche Perle gefunden. Die arte Mediathek enthielt damals eine mehrteilige Doku über die Premierenfahrt der längsten Buslinie der Welt, von Rio de Janeiro in Brasilien nach Santiago de Chile. Über 3600 KM in 5 Tagen. In der zweiten Folge kämpfte Busfahrer Piedro damit, eine durch Steinschlag zerstörte Seitenscheibe seines top modernen klimatisierten Reisebusses mitten im Urwald ersetzen zu lassen. Es war Abenteuer und Kampf zugleich. Ein Kampf mit fehlender Infrastruktur und schlechten Straßen und auch ein Abenteuer, neue Menschen kennenzulernen und die Reise ins Unbekannte, da Straßen und Witterung sich immer wieder änderten. Eine Entdeckungsreise aus der Ferne. Durch mein Tablet schaute ich wie durch ein Fenster ganz ohne Gefahr für mich bei Piedros Abenteuern zu. Irgendwie Balsam für meine geschundene Seele. Leider gibt es diese Dokumentation heute nicht mehr zu sehen, da sie „depubliziert“* wurde. Versteht man das? Wir alle zahlen GEZ und dann dürfen wir nicht mehr auf „unsere“ Inhalte zugreifen…
Entdeckung meiner Bonuszeit
Jedenfalls, diese Busfahrt, die leider nicht mehr online ist, wurde in fünf Teilen gezeigt. Es waren Alltagsgeschichten von einem anderen Kontinent, die mir zeigten, wie gut ich hier in Deutschland im Grunde abgesichert war. In dem Bus saßen Männer und Frauen, die in Brasilien arbeiteten und ihre Familien im einige Tausend Kilometer entfernten Chile vielleicht nur einmal im Jahr besuchen konnten. Gut, ich kämpfte gerade um mein Leben, trotzdem sicherte das System meine Behandlungskosten ab, die ich mir selber niemals im Leben hätte leisten können. (Ich schätze die Kosten ganz grob auf rund eine Millionen EUR.) Aber was machen Menschen, die in einem Land leben, ohne ein ähnliches Gesundheitssystem, wie z.B. die Passagiere in diesem Bus, wenn sie eine so schwere Krankheit bekämen, wie ich? Hätten Sie eine Chance auf Überleben? Das bezweifelte ich sehr. Also war ich mehr als froh, dass ausgerechnet ich so eine riesige Chance erhalten hatte. Aus meiner Situation wollte ich das Beste machen, so lange leben, wie es nur möglich wäre mit meinem angegriffenen und vorzeitig gealterten Körper. Ab jetzt betrachtete ich meine Zeit auf Erden als Bonuszeit!
Was in mir vorging ist nicht leicht in Worte zu fassen. Etwas in mir war erwacht, was vorher nicht da war. Leider war es nicht „die Macht“ aus den StarWars Filmen, mit der man Dinge physisch bewegen oder Menschen beeinflussen konnte. Jedenfalls spürte ich eine neue unbekannte Kraft in mir aufsteigen. Es war nicht mein unbändiger Wille, zu überleben – den hatte ich schon vorher. Es war anders. Eine Art neuer Blickwinkel, ein „hinter mir lassen“ oder Abstreifen von bisherigen Ansichten und Einstellungen. Zum Alltag, zum Leben, zu Allem! Und eine Fokussierung auf das, was vor mir lag.
Eine Eigenart meines neuen Ich-Teils: In der Reha nutzte ich jede Gelegenheit, meinen schwachen, abgemagerten Körper herauszufordern. Ihr macht Euch kein Bild davon. Eine Herausforderung war aktuell immer noch die Treppe in den ersten Stock zu nehmen. Oder zum etwa 300m entfernten Supermarkt zu gehen. An einem Tag schaffte ich es sogar, ein paar hundert Meter den steilen Hang neben den verwunschenen Triberger Wasserfällen hinauf zu gehen. Meine eigene reale Abenteuerreise, ohne Bus, nicht im Stream, sondern live im Hier und Jetzt!
Ansporn meiner „Abenteuer“ in und um Triberg herum war vielleicht einer dieser Busfahrt-Streams. Ich sah von meinem Tablet auf und wollte sofort los. Raus aus meinem Bett, raus aus meinem Zimmer, das auch hier in der Reha noch nach Krankenhaus aussah (nur mit richtigem Bett). Ich wollte wieder unter die Lebenden. Schnell stand ich auf – zu schnell. Mir wurde schwindelig; zu schwacher Kreislauf und zu wenig rote Blutkörperchen. Mein Körper wies mich schnell in die Schranken, es war so verdammt ätzend. Und dann noch diese Hitze. Obwohl der Ort mitten im Schwarzwald auf etwa 800 Höhenmeter liegt, waren diese Tage im Sommer 2017 erbarmungslos heiß für einen Kreislaufschwachen Stammzelltransplantierten. Meine Ungeduld mit dem eigenen Körper war sehr groß. Ich wollte nicht mehr wie ein alter gebrechlicher Mann herumlaufen. Mein Körper zwang mich dazu, die neuen Grenzen zu akzeptieren. Immer wieder schaltete sich meine neue Kraft ein und trieb meinen Körper regelmäßig an seine Grenzen. Nur so konnte ich diese erweitern. Leider nur in ganz ganz kleinen Schritten, wie es die Zeit zeigen sollte.
Mit Thomas ins Abenteuer
Zum Glück war Thomas, auch ein Leukämie-Patient, den ich auf Station Holthusen bereits kennengelernt hatte, zeitgleich mit mir in Triberg zur Reha. Er hatte fast dieselbe Prozedur hinter sich. Eine andere Art der Leukämie, aber auch eine Stammzelltransplantation, auch starken Gewichts- und Haarverlust und auch viele extreme Nachwirkungen der Chemos. Wir saßen am selben Tisch im Esssaal und machten auch ab und zu kleine Ausflüge. Natürlich nur, wenn es uns beiden gleichzeitig „gut“ ging. Denn die im Kapitel 90-60-90 beschriebenen Effekte der Chemos waren bei beiden von uns noch vorhanden.
Die „Busfahrerin“ unserer Ausflüge war seine Frau Regina. Sie besuchte Thomas für ein paar Tage. Und sie fuhr uns mit keinem Bus, sondern mit einem ganz normalen Kleinwagen. Eines Tages fuhren wir zum Blindensee, einem sehr kleinen See, der im einem Hochmoor in der Nähe von Triberg liegt. Diesen See kannte ich von zahlreichen Wanderungen, die ich früher mit meiner Frau unternommen hatte. Im nahe gelegenen Schönwald machten (und machen) wir immer wieder Urlaub in einer der Ferienwohnungen auf dem Bartlisbauernhof. Dort kann man direkt vom Haus los wandern, und eine unserer Lieblingsrouten führt am Blindensee vorbei. Für mich war diese Fahrt auch ein Abenteuer, wie für Piedro, den Brasilianischen Busfahrer. Ich kannte die Strecke, aber doch war jetzt alles irgendwie anders. Würde ich es schaffen, die ca. 300m vom Parkplatz zum See? Würde mein Körper mitspielen und die Hitze an diesem Tag gut aushalten? Müsste ich mich vor Ort plötzlich übergeben (Nachwirkungen der Chemo)? Falls ja, dann bitte ohne Publikum. Ein Ausflug mit vielen Unbekannten. Und trotzdem trieb mich die neu erwachte Kraft weiter. Wenn ich schon mal dort hin gehe, bohrte sich die Idee in mein Hirn, dann unbedingt mit die Spiegelreflexkamera incl. 2 Objektive und Tasche (ca. 2 Kg). Es könnte ja ein schönes Motiv zu sehen sein. Und ich wollte auf keinen Fall eines verpassen. Meine Bonuszeit. Nichts verpassen, nichts auslassen. Thomas hat mich kurz seltsam angeschaut, als ich mit der Kameratasche vor ihm stand, hat sich aber weiter nichts anmerken lassen. Vielleicht hat er mich für ein bisschen verrückt gehalten. Und wenn schon, dachte ich mir – mein Leben, mein Abenteuer, mein Kreislaufzusammenbruch…
Am Blindensee angekommen, setzten Thomas und ich uns zielstrebig auf eine Bank im Schatten. Die Strecke war nicht sehr weit gewesen, jedoch forderte die pralle Sonne unsere Körper stark heraus. Mit Thomas hatte ich dann lange auf der Bank gesessen, wir unterhielten uns, ich schoss ein paar Fotos (im Sitzen, von der Bank aus, keinen Millimeter Positionsänderung!) und seine Frau Regina drehte noch eine Runde ohne uns Chemo-Jungs durch das kleine Hochmoor.
Das Foto des Tages war dieses hier: Eine haarige Libelle der Art „Mosaikjungfer“
Unsere Abenteuerreise ging nicht, wie Piedro mit seinem Bus, auf über 5000 Meter hoch, wir durchquerten keinen ganzen Kontinent, kämpften nicht mit unpassierbaren Straßen. Eigentlich war unser Abenteuer neutral betrachtet absolut unspektakulär: Zwei Männer, die im Kriechgang etwa 300 Meter über einen Holzsteg zu einem kleinen Tümpel laufen und sich auf eine Bank setzen. Ende. Trotzdem war es mein größtes Abenteuer seit langem. Schließlich brachte uns Reiseführerin Regina ohne Zwischenfälle wohlbehalten in die Rehaklinik zurück. Mein Soll für diesen Tag war erfüllt. Ich hatte meine Bewegung (s. Kapitel „Ist Sport Mord?“) und ein paar schöne Fotos. Dieser Tag war schön und gut. Realer Balsam für meine Seele – nicht virtuell aus der Mediathek! Ein echtes Stück wertvolle Bonuszeit! Würde mein Körper nur jeden Tag so gut mitspielen, wie an diesem, dachte ich. Aber das Zeichen war gesetzt. Es ging stetig bergauf! Langsam, sehr, sehr langsam, aber bergauf. Ich fragte mich, ob man solch einen Kampf auch in Zeitlupe gewinnen könnte?
*Wegen des veralteten Rundfunkstaatsvertrags sind die öffentlich rechtlichen Sender dazu verpflichtet, Inhalte nach einer begrenzten Zeit aus den Mediatheken zu depublizieren, also zu löschen. (Auf Betreiben der Privatsender beschloss ein Gericht, dass die öffentlich Rechtlichen Sender Ihre Beiträge, Dokumentationen, Filme und Nachrichten nach einer bestimmtem Zeit „depublizieren“, also aus den Mediatheken entfernen, müssen.)
Kurz zusammengefasst, haben die privaten Sender gegen die öffentlichen geklagt und umgekehrt. Zudem hatte die Kartellbehörde einen Zusammenschluss der deutschen Privatsender in einer gemeinsamen Mediathek untersagt. Tja und jetzt haben wir den Salat: Jetzt wird der europäische (und deutsche) Medienmarkt von Netflix, Amazon Prime und wahrscheinlich demnächst auch von Disneys geplanter Mediathek überrollt….
Weitere Hintergünde zum Rundfunkstaatsvertrag sind hier zu lesen.
Das nächste Kapitel im LeukoFIGHT: