EPISODE 17 – DIE KASSE SCHLÄGT ZURÜCK
Vor langer Zeit, in einer weit entfernten Galaxis tobte ein Krieg zwischen dem bürokratischen Kassen-Imperium und den dahin siechenden Invaliden-Rebellen. Einige der Rebellen, zu denen auch ich gehörte, kämpften so gut es ging aus ihrem Unterschlupf heraus mit der Bürokratie-Diktatur des Imperiums. Meine Einheit kämpfte von einem geheimen Stützpunkt aus, dessen Codename: Station Löhr. Es war ein ungleicher Krieg. Das Imperium nutzte die dunkle Seite der Macht und griff immer nur einzelne der kranken Krieger an. Diese wurden dann mit übelsten bürokratischen Prozeduren gefoltert. Als meine Einheit sich nach einem Chemo-Einsatz zurück auf Station Löhr sammelte, regneten plötzlich Formulare auf mich herab. Sie kamen direkt von der dunklen Seite. Formulare über Formulare. Sie deckten mich zu. Die scharfen Papierkanten schnitten sich schmerzhaft langsam am ganzen Körper in mein Fleisch. Die Formulare vergruben mich, bis ihre Last mir die Luft aus den Lungen drückte. Ich war in der Falle. Schneidende Schmerzen und bekam keine Luft, konnte mich nicht frei kämpfen. Der Papierberg war zu mächtig, zu schwer….
Endlich wachte ich auf.
TAG +12 NACH STAMMZELLTRANSPLANTATION
Wo war ich? Was war hier los? Zum Glück, dachte ich, es war nur ein Traum gewesen. Aber die starken Schmerzen waren noch vorhanden. Sie müssen mich geweckt haben. Sie waren am ganzen Körper, am stärksten im Rachen- und Bauchraum. Verdammte Schmerzen, dachte ich, und drückte den Rufknopf für die Pfleger.
Die Nebenwirkungen der Hochdosis-Chemotherapie hatten es nötig gemacht, dass mir ein Morphinprärarat in Kombination mit weiteren Schmerzmitteln gegeben werden musste. Dieses Gefühl kannte ich schon in abgemilderter Form aus der zweiten Chemo-Phase (s. Schwarzes Loch). Das Chemo-Medikament griff extrem die Schleimhäute an, also alles vom Rachenraum ab durch den Körper hindurch, Speiseröhre, Magen, Darm, bis zum Ausgang für die Essensreste. Die Auswirkungen im Inneren des Körpers sah man zum Glück nicht. Es reichte schon das, was vom Rachenraum und Zahnfleisch sichtbar war. Es lösten sich immer wieder Gewebestücke heraus. Den Kiefer konnte ich kaum öffnen. Es war so schmerzhaft, dass ich nur tröpfchenweise trinken konnte. Für diese Phase hatte ich einen extrem voll behangenen Infusionsständer. Wirklich alles bekam ich über den ZVK zugeführt, sogar Nahrung und Wasser.
Eine Schwester kam herein. Kurz schilderte ich den erneuten Anstieg der Schmerzen. Routiniert drückte sie ein paar Knöpfe und erhöhte minimal die Morphindosis. Dieses Präparat war extrem wirksam. Sie gab mir noch ein paar Ratschläge und sagte mir, dass der Erfahrung nach in den kommenden Tagen die Schmerzen wieder nachlassen würden und die Schmerzmittel (vor allem das Morphin) zurückgefahren werden könnte. Dann würde ich auch bald wieder meinen Kiefer bewegen können und endlich wieder mit dem Essen beginnen. Oh, darauf freute ich mich so sehr. Essen. Trotz allem blieb mir eine große Lust auf gutes Essen. Es ist ein quälendes Gefühl, wenn man nichts essen kann, aber trotzdem Lust darauf hat. Mein Flüssigschnitzel am Infusionsständer war ja leider geschmacksneutral.
Der Blick wanderte zum Tisch. Sofort dachte ich wieder an meinen Alptraum, denn dort lag der Brief von der Krankenkasse. Dahinter vermutete ich eine bürokratische Foltermethode. Zum Sachverhalt: Bestimmt jeder kennt die drei-Tage-Regel, bis eine Krankmeldung bei Arbeitgeber und Kasse eingegangen sein sollte. Im Krankengeldfall ist diese Regel kein Spaß! Hier kommt wieder die Bürokratie zum Zug. Es ist gängig, dass bei längeren Erkrankungen die Krankschreibungen an jedem Ersten des Monats neu ausgestellt werden und auch nur auf einen Monat begrenzt sind. Solange ich stationär im Krankenhaus lag, war das kein Problem, da lief alles automatisch. Während der kurzen Zeit zu Hause (s. 90-60-90), gab es den Monatswechsel von März auf April. Der Erste fiel auf einen Samstag. Da lag ich wegen Nachwirkungen der Chemos flach, bis etwa zum 4. April. Erst am 5. war ich kräftig genug, um bei meiner Hausärztin vorzusprechen wegen der fälligen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU). Wenn man kaum Kräfte hat, lernt man mit ihnen zu haushalten. Vor dem Besuch hatte ich deshalb bereits frankierte Briefumschläge für Arbeitgeber und Krankenkasse vorbereitet und nahm sie mit. Denn direkt an der Praxis meiner Hausärztin war ein Briefkasten. Den Weg zur Post, den ich an diesem Tag kräftemäßig sowieso nicht geschafft hätte, konnte ich mir so sparen. Hurra!
Anscheinend kam meine AU dann auch erst am 12. April bei der Krankenkasse an. Was ich im Nachhinein nicht so ganz glaube, denn von meiner Krankenkasse wurde (später) ein ärztlicher Konziliarbericht auch erst als nicht eingetroffen gemeldet. Nachdem ich dann mühsam einen weiteren organisiert und hingeschickt hatte, kam die Rückmeldung, warum ich zwei Berichte gesendet hätte.
Folglich bekam ich in besagtem Brief mitgeteilt, dass mir 12 Tage Krankengeld gestrichen worden sind (mit einmonatiger Widerspruchsfrist). Fast ein halber Monat vom spärlichen Krankengeld weg. BÄM! Was für eine Unverschämtheit! Ich kämpfe hier um mein Leben und die Kassen-Bürokraten foltern mich mit Einreich- und Abgabefristen. Sofort war mir klar, dass ich für einen halbwegs klar formulierten Widerspruch keinerlei Kraftreserven hatte. Mein Überleben geht jetzt vor! Trotzdem zeigte der Brief Wirkung: Wieder saß ich meinem Schwarzen Loch.
Selbst bei einem neutralen Blick auf die Angelegenheit, war mir schleierhaft, warum diese Prozedur sein musste: Fakt ist, dass ich an Leukämie erkrankt war. Das wußte die Krankenkasse. Fakt ist auch, das sowas nicht bis übermorgen geheilt werden kann und die Therapie, je nach Art der Leukämie, über ein Jahr dauert, oder noch länger. Keiner kann mir erzählen, dass das die Krankenkassen nicht auch wissen. Also warum wird ein solcher Patient, der kurz nach der Stammzelltransplantation Ruhe und Erholung braucht, in Monat vier (von zwölf oder mehr) der Therapie mit einer unnötigen potentiell die Miete bedrohenden Nachricht konfrontiert? Und das nur wegen einer lächerlichen Formalie.
Den Gedanken an den Brief musste ich wegschieben. Zuerst musste ich überleben. Danach erst würde ich mich wieder der Welt außerhalb der Isolierstation widmen können. Das Morphin wirkte. Die Schmerzen traten in den Hintergrund. Die Nächte waren oft unruhig oder gar schlaflos und das räderte und schwächte mich extrem. Jetzt musste ich mich erst mal ausruhen und eine Runde schlafen, wenn es ging.
Und plötzlich war ich wieder mitten im Kampf gegen das Bürokratie-Imperium. Der Kassen-Imperator griff unablässig von seinem Todesstern aus mit bürokratischen Schriftstücken und juristischen Winkelzügen an und versuchte ins Innere von Station Löhr einzudringen. Unsere Front schien kurz vor dem Zusammenbruch. Wie aus dem Nichts bekamen wir Hilfe. Die aus dem Licht gleitenden Engel in weiß setzten ihre Jedi-Kräfte ein und wehrten alle Angriffe durch die pure Kraft ihrer Gedanken ab. Dann schlugen sie das Kassen-Imperium in die Flucht. So schnell würde kein erneuter Angriff kommen. Zeit, um sich auf den nächsten Fight vorzubereiten. Der nervöse und stressende Schlaf wurde ruhig und tief. Eine willkommene und sehr nötige Erholung.
Epilog
Erst vier Monate später hatte ich wieder genügend Kräfte, um mich an den Computer zu setzen und mental mit dieser Angelegenheit zu befassen. Schließlich war sogar ein Schreiben meiner behandelnden Ärzte nötig, damit mein Einspruch anerkannt wurde. Diese Geschichte ist eine von vielen kleineren und größeren kraftraubenden Auseinandersetzungen mit der Bürokratie von Kassen und Gesundheitssystem. Ohne die Hilfe von Sozialarbeitern, der sozialen Krebsberatungsstelle und Integrationsamt, hätte ich durch diesen Dschungel vielleicht nicht so zielführend hindurch navigieren können. Vielen Dank dafür!
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