Tiefenbohrung ins Knochenmark

Der Bohrkopf beginnt zu rotieren. Er setzt auf der Oberfläche auf und fräst sich langsam ins Gestein, senkrecht in die Tiefe. Etappenweise wird das Gestänge verlängert und die Bohrung reicht schnell viele Kilometer ins Dunkel. Unbekannte Sphären und Bodenschätze können so erschlossen werden. Auch wenn eine solche Tiefenbohrung kilometerweit in die Erde reicht, bleibt sie in Wirklichkeit doch nur an ihrer Oberfläche. Denn unser Planet hat einen Durchmesser von rund 12000 km. Da sind die wenigen km Tiefe einer solchen Bohrung, die heute technisch machbar sind nicht mal ein Kratzer. Verglichen mit dem menschlichen Körper wäre das eher wie ein Holzspreißel unter der Haut, nervig aber total ungefährlich. Eine wirkliche Tiefenbohrung wäre im maßstäblichen Sinne eher wie eine sogenannte Knochenmarkpunktion. Sie geht, je nach Stärke des Beckenknochens, etwa einen Zentimeter oder etwas mehr ins Innere und ist bei einigen hämatologischen (blutbildenden) Krankheiten nötig. Das Blut bildende System sitzt nun mal im Knochenmark. Und damit die Mediziner sehen können, was darin vor sich geht, ist ein Blick ins Knochenmark entscheidend. Um im maßstäblichen Vergleich mit der Erde zu bleiben, wäre eine Bohrung mit einer Tiefe von rund 600 km äquivalent und man würde irgendwo in der Übergangszone zwischen oberem und unterem Erdmantel landen. Hier ist schon längst alles flüssig – ähnlich wie im Knochenmark – aber viel heißer.

Das Innere von menschlichem Körper und Erde könnten kaum unterschiedlicher sein: Der Kern unseres Planeten ist rund 6000°C heiß und besteht überwiegend aus Eisen und Nickel. Leben ist dort unmöglich. Im Gegensatz dazu hat der Körper eine Temperatur um die 36°C und im Inneren unserer Knochen wird Blut gebildet. Stammzellen leben hier und erzeugen allerlei Arten von Blutzellen, ohne die unser Körper nicht mit Nährstoffen versorgt werden könnte. Jedoch erfüllen sie beide – Erdkern und Knochenmark – einen ähnlichen Zweck. Der flüssige Teil des Erdkerns erzeugt ein Magnetfeld, welches das Leben auf der Oberfläche schützt und weitgehend von Sonnenwinden und kosmischer Strahlung abschirmt. Und im Knochenmark bildet sich die körpereigene Immunabwehr gegen von außen eindringende Erreger. Also, beides macht Leben möglich und erhält es. 

Nur in wenigen Fällen, wie bei mir, kommt die Bedrohung des eigenen Lebens aus exakt diesem Innersten – dem Knochenmark. Es wurde zu meiner persönlichen Zone des Todes. Etwa wie ausbrechende Vulkane das Leben auf der Erde bedrohen, deren zähflüssige und brennend heiße Lava alles Lebendige in dessen Reichweite bedroht und langsam verschlingt. Nur sind diese Ausbrüche in der Regel regional begrenzt und bedrohen nicht das gesamte Leben hier im System Erde.

Mein Knochenmark-Defekt bedrohte jedoch das gesamte „System Alex“ auf Leben und Tod. In den Reifeprozess bestimmter Lymphozyten hatte sich eine bedrohliche unkontrollierbare Mutation eingeschlichen, die viele andere lebensnotwendige Prozesse störte.* Die Wissenschaft weiß heute, wie die unterschiedlichen Fehlbildungen bei den unterschiedlichen Arten der Leukämie aussehen und auf welche Art sie Körper und Leben bedrohen. Solche Störungen im Entstehungs- und Reifungsprozess verschiedener Blutzellen können in der Regel direkt im Blut nachgewiesen werden und sind relativ gut bestimmbar, etwa welche Leukämie-Familie es sein könnte – myeloisch, oder lymphatisch, oder ob eine andere hämatologische (blutbildende) Erkrankung vorliegt. Wie groß das Ausmaß dieser Bedrohung ist, erkennen Mediziner jedoch nur, durch eine Tiefenbohrung ins Knochenmark hinein.

© LeukoFIGHT

Gesundes Knochenmark. Es werden unterschiedliche Zelltypen gebildet.

Knochenmark mit Leukämie
© LeukoFIGHT

Krankhaft verändertes Knochenmark. Es wird vermehrt ein Zelltyp gebildet, welcher die anderen verdrängt. Hier: Myeloische Leukämie.

Die Fotos durfte ich im hämatologischen Labor der Uniklinik Freiburg machen. Vielen Dank für die Möglichkeit und die Unterstützung!

Eine sogenannte Knochenmarkpunktion (KMP) ist ein sehr schmerzhafter Vorgang. Es wird zwar die Stelle betäubt, an der der Beckenknochen durchbohrt wird. Jedoch funktioniert die Betäubung tatsächlich nur an der Außenseite des Knochens. Die Innenseite bleibt von ihr abgeschirmt. Und  genau das ist das schmerzhafte Problem. Eine Hohlnadel wird für diese Bohrung ins Knochenmark verwendet. Wenn sie die nötige Tiefe erreicht hat, werden mit mehreren Spritzen Bestandteile des Knochenmarks heraus gesaugt. Durch den Unterdruck entstand bei mir jedes Mal ein schneidender und brennender Schmerz, der im Inneren des Beines schlagartig hinunter zuckte. So, als ob jemand mit einem glühenden Eisenstab von der Hüfte abwärts in meinem Bein herumstochern würde. Sehr unschön. Um dem größten Schmerz entgegenzuarbeiten gibt es eine spezielle Atemtechnik, bei der Druck im Bauchraum aufgebaut wird. Ähnlich wie bei Verstopfung, nur ohne Stuhlgang. Also: Einatmen, pressen, ausatmen und währenddessen weiter pressen. Beim Ausatmen kommt der schmerzhafte Unterdruck, die Spritze wird gefüllt. An guten Tagen geht es besser, an meinem schlimmsten habe ich geschrien wie am Spieß. Ich denke, es spielen viele Faktoren mit hinein – allgemeiner Tageszustand und damit auch unterschiedliches Schmerzempfinden, wie viel Zeit sich die Person lässt, welche die KMP durchführt und wie feinfühlig oder nicht die ganze Prozedur durchgeführt wird. Die schlimmste Erfahrung mit Schmerzensschreien (ist tatsächlich nur ein einziges Mal passiert) und dem vollen Programm mit anschließendem Zittern und in Schweiß gebadet sein, hatte ich bei einer sehr jungen Ärztin, deren Namen ich tatsächlich verdrängt habe. Und die beste – wenn man sie überhaupt so nennen kann – mit einem speziell ausgebildeten Pfleger, Herrn Nägele. Er verwandelt den glühenden Eisenstab in einen kleinen Zahnstocher. Top Empfehlung von meiner Seite. Wer in der Uniklinik Freiburg eine KMP auf Station Egg/Naunyn machen muss, einfach beim Terminieren nach ihm fragen (und darauf bestehen). Auf der anderen Seite gibt es auch Patienten, denen dieser Eingriff gar nicht so viele Schmerzen bereitet. Zumindest habe ich schon ein paar Berichte in dieser Richtung gehört – für mich nicht nachvollziehbar.

Eine solche KMP stand recht häufig auf meinem Plan. Im Ersten Schritt für die Diagnose. Was genau passierte im Knochenmark, welche Art der Leukämie war es, wie weit war deren Fortschritt  (fast das Wichtigste) und wie stark waren die anderen Blut bildenden Prozesse schon beeinträchtigt. Dann kamen drei Chemo-Blöcke. Nach bzw. vor jedem Block mussten die Mediziner ins Knochenmark hineinschauen, um zu sehen, ob und wie gut die Chemos bisher angeschlagen haben. Und dann noch einmal vor der Stammzelltransplantation und zur Kontrolle einige Male in genau definierten Abständen danach: Tag 30, Tag 100 und Tag 365.

Ein Patient, will er oder sie überleben, muss die Prozeduren über sich ergehen lassen. So auch ich, logisch, sonst hätte ich mir jede Chance genommen. Und wie steht es mit unserem Planeten? Eigentlich ist er nicht krank und dennoch wird er jeden Tag gepiesackt, durch Tunnelgrabungen, unterirdische Atombombentests, Bohrungen nach Erdöl und Erdgas, Bergwerksgrabungen nach Kupfer, Aluminium und vielen anderen Rohstoffen, immer weiter, bis zur restlosen Ausbeutung. Hoffentlich heißt es nicht eines Tages, dass die Erde doch schon längst eine äußerst gefährliche Krankheit hätte: Homo Sapiens! Böse Zungen könnten dann behaupten, dass sich das Problem bestimmt bald von selber lösen würde…

😉

*Wie schon angedeutet, können aus einer Knochenmarkstammzelle (vereinfacht gesehen) zwei verschiede Zellreihen entstehen. Die myeloische und die lymphatische. In beiden Reihen gibt es sehr viele Zwischenstadien und Verzweigungen der Reifung. So können etwa weiße oder rote Blutkörperchen entstehen (und über 10 verschiedene weitere – vereinfachtes Schaubild auf dieser Seite). In meinem Fall war ein gravierender Defekt im Reifeprozess der Lymphatischen Reihe – die Reihe, die auch für die Immunabwehr verantwortlich ist. Es wurden zu viele Blasten produziert, also (auch vereinfacht) unreife weiße Blutkörperchen, die in diesem unreifen Stadium blieben und so keine Aufgabe erfüllen konnten. Da viel zu viele von diesen Blasten im Knochenmark gebildet wurden, blieb immer weniger Platz für die Bildung der anderen Zellreihen. Das ging bei mir soweit, dass es tatsächlich lebensbedrohliche Ausmaße angenommen hatte und eine Stammzelltransplantation nötig war.

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