Tour de Löhr

TAG +15 NACH STAMMZELLTRANSPLANTATION, STATION LÖHR

Schnelle Tritte in die Pedale. Die Beinmuskulatur war am Leistungslimit. Rasender Puls. Aber ich kam nicht von der Stelle. Und das war auch gut so. Wäre ich mit einem Fahrrad durch die Korridore der Isolationsstation Löhr gefahren, hätte es garantiert eine schwere Karambolage gegeben. Der Hometrainer auf dem Zimmer war sicherer. Und damit kein falsches Bild entsteht: Mein Leistungslimit lag im Augenblick grob geschätzt bei dem eines untrainierten 90jährigen. Auf dem Fahrradtrainer schaffte ich maximal 30 Umdrehungen pro Minute mit 20 Watt Leistung. Normalsterbliche schaffen 60 Umdrehungen bei 40 Watt – untrainiert – und kommen dabei nicht mal aus der Puste. Trotzdem fühlte ich mich ausgepumpt wie Jan Ullrich nach der Tour de France. Die Nebenwirkungen der vergangenen Hochdosis-Chemo nahmen sehr langsam ab, und meinen Körper war noch immens geschwächt. Dennoch setzte ich mich jeden Tag für 15 Minuten auf den Fahrradtrainer. Das Schockerlebnis aus Kapitel 90-60-90 beim Treppensteigen war immer noch präsent. Ich tat alles dafür, dass mein Muskelapparat so wenig wie möglich abbaute. Bewegung war der Schlüssel.

Zusätzlich war ich Teilnehmer bei einer Bewegungsstudie, die untersucht, wie Muskelabbau nach einer Stammzelltransplantation so gut wie möglich unterbunden werden kann. Täglich kamen dazu speziell geschulte SportstudentInnen auf die Zimmer der teilnehmenden Patienten. Dann wurden etwa 15 Minuten ausgewählte Übungen gemacht. In einer Phase, als mein Hämoglobin (s. Unser täglich Krieg) sehr niedrig war, kam ich verständlicher Weise noch schneller als sonst aus der Puste. Für einen gesunden Menschen sind Werte zwischen 12-18 g/dl normal. Bei mir lag er zeitweise unter 8. Da kommt man schon beim langsamen geradeaus Gehen schnell aus der Puste. In den meisten Fällen erhält ein Patient dann ein Blutpräparat, was bei mir während den Chemos auch öfter der Fall war. Nach der Stammzelltransplantation schalteten die Ärzte plötzlich um und geizten etwas mit der Verabreichung von roten Blutpräparaten. Sie warteten darauf, dass das neue Immunsystem alle Bestandteile des Blutes selber generiert. Das hat mir meine erste Reha ziemlich nutzlos gemacht, weil ich kreislaufmäßig fast nur im Bett liegen konnte. Aber dazu ein anderes Mal. Einmal hatten die Mediziner mir zur Anregung der eigenen Hämoglobinbildung EPO gegeben. Wieder ging es mit meinen Gedanken durch: Doping wie bei echten Spitzensportlern! Wow, jetzt war ich im Club der Dopingsünder. Mal sehen, ob mich die WADA bald zur Urinprobe bittet. Wäre natürlich misslich, wenn ich zur kommenden Tour de France gesperrt würde.

Langsam kam die Erinnerung an eine ältere Dokumentation über Doping im Spitzensport: „Blut und Spiele“ (Teil 1 und Teil 2). Vor allem in Teil 2 (etwa ab Minute 8) wurde gezeigt, dass der Einsatz von EPO erschreckend gefährlich sein kann. Die Anzahl an roten Blutkörperchen wird durch das Mittel drastisch erhöht. Macht Sinn, dies im Sport einzusetzen, denn ein besserer Sauerstofftransport zu den Muskeln erhöht die Leistungsfähigkeit immens. Bei gedopten Sportlern allerdings ist das Blut so sehr verdickt, dass der Ruhepuls im Schlaf nicht zu weit herunterfahren durfte. Dann hätte das Herz nicht mehr kräftig genug pumpt, um das zu dicke Blut zirkulieren zu lassen und Herztod wäre die Folge. Die Lösung war, dass mitten in der Nacht der Wecker klingelte und der eigene Kreislauf angekurbelt werden musste.

Meine Ärzte versicherten mir, dass das EPO bei mir niemals solche Blut verdickende Wirkung haben würde, da bei mir momentan der Hämoglobin-Spiegel viel zu niedrig wäre. Hier bekam ich also eine medizinisch vorgesehene Anwendung des Präparats. Kein Missbrauch für Geld, Ruhm oder Medaillen. Fast schon schade.

Drei Tage später auf dem Fahrradtrainer erwischte ich mich dabei, wie ich ihn von 20 Watt Leistung auf 25 hoch schaltete. Und es fühlte sich gut an! Achtung Christoher Froome! Wir sehen uns zur Tour de France.

(…oder auch nicht.)

Weiterlesen im nächsten Kapitel