Neuinstallation

Bevor die Geschichte beginnt, eine kurze Information in eigener Sache. Es geht für mich Stück für Stück zurück in den Alltag. So weit die gute Nachricht. Die schlechte ist: Für das Geschichtenschreiben habe ich leider nicht mehr so viel Zeit. Dennoch will ich Stil und Niveau halten. Also habe ich mich dazu durchgerungen, nur noch alle zwei Wochen ein neues Kapitel zu veröffentlichen. Es würde mich freuen, wenn Euer Interesse weiterhin besteht. (Es gibt einen kleinen Erfolg zu feiern: Im Januar 2018 hatte diese Seite über 1000 Besucher.) Gerne könnt ihr diese Seite an Interessierte weitergeben – sie ist ja schließlich weltweit erreichbar. 🙂

Nun aber zur Neuinstallation…

©Pixabay

Wer kennt die Situation nicht, der Computer streikt, auf dem Monitor ist alles eingefroren, es geht nichts mehr. Wenn dann kein Neustart hilft, sondern nur eine Neuinstallation des Betriebssystems, ist alle Hoffnung auf eine schnelle und einfache Lösung dahin. Man muss ran, an die große Prozedur. Sowas nervt einfach nur. Das Betriebssystem meines Immunsystems hatte sich auch abgeschossen. Ein paar richtig blöde Mutationen an genau den ungünstigsten Stellen im Erbgut, und da war sie, die Leukämie.

Bei einem Computer ist es relativ einfach, das alte Betriebssystem zu beseitigen: Die Festplatte löschen und schon ist Platz für einen Neuanfang. Auf eine leere Festplatte können unterschiedliche Betriebssysteme Installiert werden. Im Gegensatz dazu ist das „Löschen und neu Installieren“ eines Immunsystems sehr viel komplizierter und gefährlicher. Denn auf das richtige „Format“ der Stammzellen kommt es an. Nicht jede x-beliebige Stammzell-Variante kann aufgespielt werden. Die Zellen des Spenders werden auf 10 Merkmale untersucht und verglichen. Statistisch gesehen wird ein Treffer bei etwa jedem 30.000-100.000sten Spender erzielt. Glücklicher Weise wurden für mein bisheriges Immunsystem Treffer gefunden (mehr dazu im Kapitel Zaubertrank), und so konnte der Löschvorgang beginnen. Der erste Schritt bei (meiner) Therapie war, wie in „Mein Hiroshima“ bereits erzählt, eine Strahlentherapie. Darauf folgte der letzte Akt, um das alte defekte Immunsystem los zu werden.

TAG -3, DIE HOCHDOSIS-CHEMOTHERAPIE

Auf die Chemo freute ich mich ebenso wenig wie zuvor auf die Strahlentherapie. Da half es auch nicht, dass das jetzt zum Einsatz kommende Medikament Etoposid vom Maiapfel, auch als Schildförmiges Fußblatt bekannt, gewonnen wurde. Der Begriff „rein pflanzlicher Wirkstoff“ hilft leider auch bei tödlichen Giftpflanzen nicht. Meine Frau versuchte mich aufzubauen und sagte mir vor jeder Chemo, dass jetzt die weißen Ritter in meine Blutbahn reiten würden und alles böse kaputt schlügen. Blöderweise waren „meine“ weißen Ritter übereifrig und griffen auch den Körper an. Zumindest lief das Gift einmal am Stück in mich hinein, nicht in mehreren Sitzungen. Es entfaltete nach Stunden seine Wirkung und nach Tagen und Wochen erst seine Nebenwirkungen, von denen einige noch viele Monate anhalten sollten. Naja, Ritter eben. Viel Gemetzel und ein Haufen Kollateralschäden.

Um so mehr freute ich mich auf die Stammzellen. Natürlich hatte ich auch ein bisschen ….Schiss. Aber sie waren der Neuanfang, das neue Betriebssystem, mein Weg hier raus und irgendwie eine Wiederauferstehung. Wenn alles funktionierte würden sie mein Ticket zurück ins Leben sein.

TAG -2 UND -1, LÖSCHUNG ABGESCHLOSSEN

Auch auf Station Löhr gab es dieselbe Prozedur wie zuvor auf Station Holthusen. Nachts, etwa ab 3 Uhr, die Blutentnahme für das Labor über den ZVK (mehr über den ZVK hier), damit dann zur Arztvisite (meistens ab 9 Uhr) die Blutwerte abrufbar waren. Wie geplant gingen die Leukozyten quasi auf Null herunter. Vom Labor wird dann angegeben, dass der Wert unter 100 liegt (<100). Also die Anzahl der Leukozyten pro µl (normal bei Erwachsenen: 4000 – 10000 pro µl). Jetzt gab es keinen Immunschutz mehr. Krankheitserregern wäre ich hilflos ausgeliefert. 

Auch die Thrombozytenzahl kann während einiger Chemotherapien gefährlich absinken. Das geht teilweise sogar soweit, dass einem vorübergehend verboten wird, sich zu bücken (etwa fürs Schuhe binden oder um etwas vom Boden aufzuheben). Es könnte ja passieren, dass durch den Überdruck im Kopf ein Äderchen platzt. Dann wären zu wenig Thrombozyten vorhanden, um die innere Wunde zu versiegeln. Selbst kleinste innere Blutungen könnten während so einer Phase zu größeren Hirnblutungen oder im Extremfall zum Tode führen. Und dreimal dürft Ihr raten: Natürlich gehörte ich auch zur Gruppe derjenigen, deren Thrombozyten gefährlich absanken. Ich sollte sogar darauf achten, dass ich mich nirgends stoße. Dadurch könnten unter der Haut die aus jeder Kindheit bekannten blauen Flecken entstehen. Nur dass sie in diesem Stadium nicht mehr aufhören würden zu wachsen. 

Alles auf Null, mein Knochenmark war nun frei vom alten Immunsystem. Löschung erfolgreich. Danach war alles auf eine Karte gesetzt. Es gab kein Zurück mehr. Alles hing von den neuen Stammzellen ab. (Langsam setzten auch die stärkeren Nebenwirkungen der Chemo ein.)

TAG 0, DIE STAMMZELLTRANSPLANTATION

Ziemlich aufgeregt startete ich in den Tag. Auf den Stammzell-Zaubertrank freute ich mich schon. Trotzdem war mir auch etwas bange. Läuft alles so, wie geplant? Über Komplikationen wollte ich überhaupt nicht nachdenken. Es blieb aber eine kleine unbestimmte Angst die ganze Zeit im Hinterkopf hängen.

Ich versuchte mich abzulenken. Woher kamen meine neuen Stammzellen? Wer war der Spender? War er ein Er oder eine Sie? Wie alt, wie jung…? Am heutigen Tag sollte ich nur erfahren, dass mein Spender männlich war, 9 Jahre jünger als ich und in Deutschland lebte. Meine neue Blutgruppe würde A+ (vorher 0+).

Als dann am frühen Nachmittag der Beutel mit den Stammzellen hineingebracht wurde, war ich etwas erstaunt. Der sah ja gar nicht besonders aus. Ziemlich ähnlich den Blut-Beuteln, wenn mal wieder zu wenig rote Blutkörperchen vorhanden waren. Das Zeremoniell war allerdings ein ganz anderes. Während die Stammzelllösung durch den ZVK in mich hineinlief, waren ständig zwei Leute vom Pflegepersonal im Zimmer anwesend und ein Arzt schaute alle paar Minuten vorbei. Neben mein Bett wurde eine Blaue Maschine gerollt, die alle 5 Minuten Blutdruck und Puls maß. Diese Vorsichtsmaßnahmen waren nötig, falls allergische Reaktionen auftreten sollten. Zur Erleichterung Aller (besonders meiner) ist nichts passiert. Meine Frau ließ sich diesen Moment auch nicht entgehen und hat die letzten in mich hineinlaufenden Tropfen per Handyfoto festgehalten.

©Leukofight

So, fragte ich mich, und das war es jetzt? Es fühlt sich nach…..nichts an. Keine Veränderung. War das ein gutes Zeichen? 

Es würde jetzt eine ganze Weile (plus minus 20-30 Tage) dauern, bis etwas messbares passieren würde, meinten die Mediziner. Kein warmer freundlicher Gong, wie bei einem startenden Betriebssystemen auf dem Computer. Schade, es gab also kein sofortiges kleines Erfolgserlebnis zu vermelden. So ein Immunsystem-Neustart dauert also eine ganze ganze Weile, dachte ich. Jetzt hieß es warten, hier auf Station Löhr, Zimmer 4. Vielleicht sollte ich zum Zeitvertreib gedanklich wieder meine Insel besuchen. Wie wäre das: Bin im Urlaub auf Hallig Löhr. Sofort wollte ich auf google Maps nachschauen, an welchen Ort ich mir meine Hallig wünschen würde. Dann kramte ich meinen Laptop aus dem Schränkchen (natürlich ohne meinen Kopf zu weit nach unten zu senken) und schaltete ihn ein. Er begrüßte mich mit einem warmen Gong. Klasse, wenigstens läuft er rund, dachte ich, hier ist keine Neuinstallation nötig! Und er startet auch viel schneller…

Weiterlesen im nächsten Kapitel: